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Micio

Micio„Seid ihr auch hier wegen des Ministers?“, fragte uns der Kameramann vom Telegiornale des Italienischen Fernsehens. „Nee, wir drehen Micio“, antwortete ich. „Micio? Che micio? Was für eine Katze wollt ihr aufnehmen?“, murmelte er verunsichert und mit ungläubigem Blick auf unsere für derartige Zwecke wohl überteuerte japanische Hightech-Ausrüstung. Und dann kam er, natürlich pünktlich vor dem Minister. Zockelte uns mit seinem Freund Giuseppe Morandi im Bogengang einer Mantovaner Villa freundlich entgegen. Entourage und Bodyguards des Staatsrepräsentanten mussten zum Spalier zurücktreten…
Einer mit Katzengesicht, riesengroßen Ohren, verbranntem Nacken und kräftigen, schwieligen Händen, Gianfranco Azzali war in die reiche europäische Bürgerstadt gekommen, um auf einer Konferenz über sein Arbeitsleben und seine politischen Aktivitäten in der Poebene als bergamino, als bracciante, als Stall- und Landarbeiter und schließlich als metalmeccanico, als Mechaniker zu berichten.
Als später der Minister für Soziale Solidarität zu sprechen begann, ging Micio erst mal eine rauchen…

Micio mit dem StierMit 4 Jahren war er schon Mitglied der Falchi Rossi, der Kinderorganisation der Sozialistischen Partei. Der Melker und Stallarbeiter Piero Azzali, sein Vater, hatte 1951 die tessera für den jüngsten seiner drei Söhne gekauft. Irgendwo ist der Ausweis noch heute in der kleinen Cascina in Pontirolo vergraben. Meine tagelange Mühe als politischer Archäologe war leider vergebens, wir haben das Ding nicht vor die Linse gekriegt. In seiner Kindheit spielte man auf den dunklen Heuböden der cascine, der Gutshöfe Verstecken. Seine Brüder Enrico und Bruno, die 1938 und 1941 geboren wurden, gingen fünf Jahre in die scuola elementare und mussten danach sofort arbeiten. Gianfranco durfte noch drei Jahre der Mittelschule absolvieren, aber dann sagte seine Mutter auch für ihn „basta“. Mit 15 begann er seinen ersten Job, aber schon nach 40 Tagen war der angehende Metaller wegen Streikbeteiligung wieder draußen. 1962 folgt der püteil, der Junge dem Vater in den Stall. Nun war auch er bergamino, wie sie noch heute in der Bassa Padana sagen. 1966 raubt er sich – inspiriert vom sozialistischen Sozialforscher Gianni Bosio - kostbaren Schlaf, um für zwei Wochen seinen gewöhnlich zehnstündigen Arbeitsalltag mühselig in einem Tagebuch festzuhalten. Die Handschrift ist schwerfällig und er schreibt im ungewohnten trapassato remoto, im Plusquamperfekt. Jahre später wird der Sohn eines Analphabeten sagen: “Ich kann sprechen und das ist schon viel“.

Micio Gespräch Micio Gespräch Micio Gespräch Micio Gespräch

“Ich kann sprechen und das ist schon viel“

1967 gründet Micio mit Giuseppe Morandi und seinem Vater die Lega di Cultura di Piadena, einen politischen Kulturbund, der sich fortan der historischen Dokumentation der Arbeitsverhältnisse und politischen Kämpfe der paisan, der Landarbeiter widmen wird, aber auch eine autonome Basisorganisation des „fare politica“, des „intervento immediato“ außerhalb der etablierten politischen Parteien und Institutionen ist. Die Sozialistische Partei hatte er selbst bereits im Dezember1963 verlassen, als deren Führer erstmals in die bürgerliche Regierung eintraten. Auch mit der Kommunistischen Partei kam er auf Dauer nicht klar und wurde nach zwei Jahren Mitgliedschaft 1968 ausgeschlossen. Ende der 60er Jahre fungierte er auch mal als Sprecher von Studenten in Parma, um deren ellenlange Schachtel-Diskurse in wenigen klaren Sätzen auf den politischen Punkt zu bringen…

1968 melkt er das letzte Mal mit den Händen. Danach baut er in einer Firma am Rande von Piadena Geräte und Anlagen für die Melioration. Es ist eine der Firmen, die die großen ineffizienten, weil hyperverschwenderischen getti, Wasserwerfer für die Landwirtschaft herstellt. Als äußerst aktiver Gewerkschafter und Betriebsrat versucht er Projekte über alternative Energieproduktionen voranzubringen.

Der Vorsitzende
Der Vorsitzende
Heute könnte er eigentlich sein Dasein als pensionato, als Rentner „genießen“, wenn da nicht die cascinetta in Pontirolo wäre, mit der 94jährigen blinden und pflegebedürftigen Mamma Arnoldi Eugenia, la Genia, che „fa arrabbiare“, die ganz schön nervt, und dem Bruder Bruno, der oft nicht so spurt, wie er will. Eine cascinetta wo der Tag wie eh und je im Morgengrauen beginnt. Ein kleines Gehöft mit einem großen Hühnergehege, dem Gemüse- und Kräutergarten, dem Wäldchen, das er angepflanzt hat, weil er kein teures Gas verfeuern will, den Würsten, den in dieser Gegend traditionellen und berühmten cotechini, den Kochwürsten, und neuerdings wieder dem Wein. 2007 hat er einen Bio-Wein hergestellt nach alter Fermentation. Und …wenn da nicht seine „Sozialenkel“ (die kleinen Jungs der Tochter seiner ehemaligen Lebensgefährtin…) wären, die ihn auf Trab halten und wegen denen er schon mal alle revolutionären Bildungs-Prinzipien fallen lässt, …wenn da nicht noch die kleine Putzkooperative wäre, um die er sich als unbezahlter capo zu kümmern hat, oder das Fest der Lega di Cultura, das er als ihr strenger Vorsitzender jedes Jahr im März zu organisieren hat…und schließlich, die Welt, in die es ihn mit seinem Freund Morandi immer öfter zieht. Neulich, im Frühjahr, waren die beiden im fernen Amerika, um Universitätsgelehrten von ihren Erfahrungen einer verschwundenen Kultur des „alten Europa“ zu berichten…

Film

MicioMicio scheint wie für den Film geschaffen. Ein tipo, wie die Italiener sagen, ist er ohnehin. Aber mehr noch, er ist eine maschera, una maschera di se stesso, eine Maske seiner selbst. Er hat eine unverwechselbare Natürlichkeit und Authentizität, die für jeden Regisseur ein Geschenk sein sollte. Micio ist einfach er selbst, die Kamera scheint ihn nicht zu interessieren. Er arbeitet, er redet, erzählt, sinniert, gestikuliert aufbrausend, diskutiert, auch mit sich selbst und sich selbst in Frage stellend. Rollenspiele und Verkleidungen kann er nur schwer akzeptieren. Als die Kamerafrau im letzten Sommer meinte, dass für bestimmte Einstellungen vielleicht die schweißglänzende Nase irgendwie gepudert werden müsste und mangels Schminke dabei auch an Mehl dachte, runzelte Micio nur die Stirn. Ein paisan, ein Landarbeiter verschwendet doch kein kostbares Mehl für derartige Mätzchen! Man kann Micio als Darsteller seiner selbst nicht an die Kette irgendwelcher dramaturgischen Einfälle legen. Selbst Micio, den streitbaren, politischen Micio, für einen Film zu gewinnen war lange Zeit unmöglich. Den bekannten italienischen Journalisten und Buchautor Corrado Stajano hatte er vor mehr als drei Jahrzehnten mal brüsk abblitzen lassen. Der wollte ihn für einen Dokumentarfilm gewinnen, aber Micio erwiderte nur lapidar, dass er jetzt keine Zeit für Filme mit einem bürgerlichen Journalisten hätte, da er gerade die Revolution machen müsse. Und mir gegenüber fügte leicht ironisch hinzu, da jetzt die Revolution wohl verloren sei, könne er eben einen machen. Ich wollte dann diesen Satz drehen, in seiner ironischen Sentenz rekonstruieren, aber Micio hatte keine Lust, sich noch einmal auf dieses Spiel einzulassen und der Intention des Regisseurs zu folgen. Er setzte sich auf seinen Stammplatz an den Küchentisch und begann ganz ernsthaft über das Thema zu reden. „Il mondo si debba cambiare…“, die Welt muss sich ändern…
MicioDie Revolution veralbert einer wie Micio letztlich eben doch nicht. Ihm würde es nie einfallen auf einem Fest von Kommunisten, wo die bandiera rossa weht, endlos banale Schlager dudeln zu lassen oder Jahrmarktstinnef zu verscheuern.

In Bernardo Bertoluccis mehrstündigem Geschichtsepos „Novecento“ hat er 1974, zusammen mit seiner Mutter als überqualifizierter Komparse mitgespielt. Bertolucci erinnert sich noch heute, dass Micio über bestimmte Szenen noch am Set lamentierte. Er wollte sich die Geschichte der Landarbeiter, so wie er sie kannte und erlebt hatte, nicht nehmen lassen. Der Getreidesack, mit dem Depardieu locker durch mehrere Einstellungen spaziert, war für dessen Filmaktionen real viel zu schwer… Eben 84 Kilogramm, wie Micio sagt. Die Ignoranz gegenüber dem lavoro faticoso, der schweren körperlichen Arbeit, die natürlich auch bestimmte außerordentliche Fähigkeiten erforderte, war ihm immer ein Gräuel.

Arbeit und piacere

MicioEr hat gerne gearbeitet, ihm gefiel die Arbeit im Stall und auch später in der Metallfabrik. Micios individuelles historisches Fazit ist derart positiv. Von Euphorie aber keine Spur. Die Differenz zwischen piacere, Gefallen, und gioia e voglia, Freude und Lust, konnte und kann gewaltig sein. Man darf nicht dem Missverständnis verfallen, dass Micios Kernsatz mi piaceva lavorare im Kontext jener, auch durch Goethes Italienreise-Erfahrungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts genährten Verklärung läge, dass die Italiener im Gegensatz zu uns Nordvölkern nicht nur arbeiten, „um bloß zu leben, sondern um zu genießen“, wie der große Dichter es suggerierte. Dem politischen Micio wäre dies alles zu prosaisch. Derartige Mythologisierungen sind ihm fremd, aber er ist zweifelsohne stolz auf seine Arbeit, er ist – wie alle Arbeiter - stolz auf seine besonderen Fähigkeiten und die produktiven Resultate seines Tuns. Er war nicht der padrone, der Eigentümer der Produktionsbedingungen und die Arbeit war oft faticoso, mühselig, und mica da ridere, nicht gerade zum Lachen, aber gemacht hat er sie immer und obendrein auch noch gut und mit passione, wie es ihm sein Vater als bergamino vorlebte.

MicioMicio hat derart allen Grund und „alles Recht“, die italienische Verfassung mit ihrem berühmten articolo uno herzunehmen und 60 Jahre nach ihrer Inkraftsetzung den Finger auf die wunden ersten Paragrafen (in Artikel 4 ist gar ausdrücklich für alle Bürger „il diritto al lavoro“, das „Recht auf Arbeit“ anerkannt!?) zu legen, deren „klägliche Realisierung“ anzumahnen und endlich eine neue ernsthafte Debatte mit praktischen Konsequenzen zu fordern. Den Traum von der Arbeiterrepublik träumt er längst nicht mehr, aber dass sein Land, seine res publica, „fondata sul lavoro“, sich auf die Arbeit gründet, ist schlicht die Wahrheit, muss als Erkenntnis verteidigt und wieder diskutiert werden, angesichts von Millionen disoccupati e precari, angesichts massenhaft brachliegender hoch qualifizierter Arbeitskräfte, deren katastrophale Degeneration droht.

Micio weiß um die Absurdität, dass man zwar seit über hundert Jahren in Italien den Staatsorden eines „Cavaliere del lavoro“ vergibt, aber aktuell unfähig ist, eine wirklich moderne Wirtschaftspolitik zu realisieren, die die Entwicklung der Arbeit als Grundlage hätte. Heroenkult und Konzeptionslosigkeit gehen eine eigentümliche Symbiose ein. In der Krise schaut man zu den „Rittern“, zu den Helden auf. Armselig das Land, das diese Überhöhung, diese ideologische Verklärung nötig hat, muss einer wie Micio denken. Einer, der keinen Titel vor sich herträgt, den Reichtum Italiens aber mit schuf. Über Cavalieri del lavoro wie Berlusconi kann er nur lachend den Kopf schütteln. Die haben nie produktiv gearbeitet. Er muss nur auf seine Hände schauen. Die liefern ihm die sinnliche Gewissheit und die Erinnerung an eine alte Weisheit der paisan:
„Chi lavora si fa il callo e non va mai a cavallo“,
wer arbeitet, holt sich Schwielen an den Händen, sitzt aber nie hoch zu Ross.

Ciao Micio, und weiterhin “buon lavoro”! Micha