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KULTUR kommt von AGRIKULTUR

Eine letzte Ruine

Mühle Da steht etwas, in der Nähe von Drizzona, auf einem karg bewachsenen Damm, aus Ziegeln gemauert, drei rissige Stockwerke hoch, der Putz zerbröckelt, das Dach marode. Der Orts- und Geschichtsunkundige würde vielleicht gerade noch die eisernen Jugendstilverziehrungen an den fauligen Balken über der großen verwitterten Eingangstür ausmachen. Am ausgewaschenen Fuße der Ruine ein sich träge dahinwälzendes Flüsschen.Wer hätte uns hier vor 50 Jahren empfangen? El muliner, der Müller!

MühleVielleicht gerade jener Giano Stringhini , den uns Giuseppe Morandi in einer kleinen Fotoserie hinterlassen hat. Der Oglio wäre noch ein richtiger, manchmal reißender und überschäumender Fluss gewesen, kräftig genug, um ein großes Mühlrad beständig anzutreiben. An den Rändern des Dammwegs hätten sie noch die Kokons der Seidenraupen auf den Blättern der Maulbeerbäume silbrig glänzen sehen. Und in Stringhinis Gesichtsausdruck wären vielleicht noch keine Zweifel zu bemerken gewesen, jene deutlich wahrnehmbare Skepsis der Fotos von 1967 als Morandi ihn mit der Kamera traf.

Sie singen noch immer die wunderbar-ironische, alte Canzone Popolare: „Su, sveglia molinaio che l’è giorno“. Wache auf Müller, es ist schon Tag! Aber der lässt sich nicht mehr wecken und das große Mühlrad ist längst ab und würde heute auch nicht mehr „greifen“

Ein „Verrückter“, der kein Dieb sein wollte

Ginge es nach alten Bemerkungen seiner Leute sähen sie die Bilder eines „Verrückten“. Einer, der Kühe fotografiert, Landarbeiter und Bauern mit der Hacke in der Hand und obendrein auch noch die Toten muss doch „un po’ fuori di testa“, „nicht ganz richtig im Kopf“ sein, tuschelte man in den späten 50er und den 60er Jahren wenn der junge Praktikant und spätere (ab 1966/67) Applicato (Hilfs“beamte“ – er war der, der die Schreibmaschine bedienen konnte …) der Gemeindeverwaltung in seiner Freizeit mit Foto- und Filmkamera in Piadena und Umgebung herumzog. Ein eigentümlicher, eigensinniger „Verrückter“, der mit den Mitteln seiner Fotografie etwas zurechtzurücken versuchte, was nicht im Fokus der Zeit stand, geschichtlich verworfen und an den Rand gedrängt schien: La fatica e il lavoro della „civiltà contadina“. Die Mühe und die Arbeit auf dem Lande.

Morandi Morandi Morandi Morandi

Morandi erzählt

Es gab keine Bauernfotografie in der Po-Ebene, berichtete Morandi. Fotos der Arbeit auf dem Lande existierten nicht und die Landarbeiter und Bauern hätten sie auch nicht gewollt, jene Spiegelbilder alltäglicher, oft demütigender Bedingungen. Morandi musste dies selbst experimentell erfahren. Die ersten Fotos, die er den Bergamini, den Stallarbeitern gab, landeten nie gerahmt in den Wohnungen, dort wo üblicherweise die Festtagsfotos, die „schönen“ Fotos der Hochzeit, der Kommunion, des Militärdienstes etc. hingen. Sie wurden bestenfalls an die Stalltür genagelt… Wer konnte es einem Melker verdenken, dass er ein Porträt seiner selbst, mit der Kuhscheiße am Kopf, nicht über das Ehebett hängen wollte?

Auch seine erste Ausstellung, „Die Cascina stirbt in Vho“, fand 1965 noch keinen öffentlichen Raum in Piadena, war auf der Stadtmesse nicht gewollt, musste noch abseits in einem kleinen alten Laden stattfinden. Geschichte „von unten“, die Geschichten einer untergehenden Landarbeiter-Kultur galten noch nicht als chic und medial verwert- und vereinnahmbar wie zehn Jahre später als Bertolucci „1900“ in der Poebene drehte. (Für Morandi allerdings ein Sittengemälde allzu sehr aus dem Fenster des Padrone, der Perspektive des Herrenhauses). Seine Bilder galten als provokative Störung, wie er selbst schon als „Provokateur und Störer“ erschienen war, mit einigen seinen ersten Erzählungen, die man Ende 1962 an der Mittelschule von Voltido in einer Ausgabe der „Quaderni di Piadena“ verteilt hatte und die 1963 auf Entscheid des Amtsrichters von Casalmaggiore wegen „Verbreitung pornographischen Materials unter Minderjährigen“ beschlagnahmt wurden.

Morandi war und ist also kein bequemer „Sonntagsfotograf“. Und auch die Technik, die Pixelekstase und die Kunstfertigkeit interessierten ihn wenig. „Es reicht zu wissen, was eine pellicola, eine Filmrolle ist“, sagt er uns allzu lakonisch, gewiss aber untertrieben.

1 Morandi 3 Er war dem eigenen Selbstverständnis nach einfach Dokumentarist. Ein narrativer Dokumentarist, der etwas aufheben, bewahren wollte, indem er darüber in Bildern erzählte, anfangs noch ein wenig nostalgisch, später auch politisch bewusst und überzeugt, dass mit Fotos auch Politik gemacht wurde und werden muss („fare politica colla foto“). Er begriff sich – zunächst angestiftet vom Pädagogen und Schriftsteller Mario Lodi und später stark beeinflusst vom sozialistischen Sozialforscher Gianni Bosio - als Dokumentarist bestimmter Arbeits- und Lebensverhältnisse, die – zumindest in Mitteleuropa - für immer im Verschwinden begriffen waren. Wir haben einige dieser Bilder hier vor uns: Landarbeiter und Bauern beim Rüben verziehen, beim Mähen und Ährenstoppeln. Morandi
Fotos: Morandi
Piero Azzali bindet den Besen
Die Verteilung des Mais auf dem Dreschplatz einer Cascina, eines Gehöfts (vergleichbar etwa einer alten deutschen Gutshofes mit Meierei, mit Herren- und Gesindehaus, Stallungen, Lagerräumen, Heuboden gruppiert um einen Hof der zugleich Dreschplatz war). Die Bergamini, die Stallarbeiter, die einst aus dem Bergamasker Voralpenland in die Bassa Padana kamen und sich dort bei den Großagrariern als braccianti, als paisàn (wie es in ihrem Dialekt heißt), als Landarbeiter verdingten. (Gianfranco „Micio“ Azzali ist einer von ihnen. 1968 hat er das letzte mal mit den Händen gemolken). Und all die anderen, denen Morandi ein foto-dokumentarisches Denkmal gesetzt hat: Die Frauen bei der Wäsche, die Tomatenpflückerinnen, der Seiler, der Sattler, der Müller, die Schlachter… und nicht zuletzt seinem Vater, einem Land- und später Straßenbauarbeiter.

Morandi, der „reife“ Morandi, wollte mit seiner Art der Fotografie, wie er selbst betonte: ihnen, seinen Leuten, „ein Gesicht geben und ihr Leben aus ihrem Inneren erzählen“. Facce e visi. In jedem ausgemergelten, ausgezehrten Gesicht, in jeder faccia magra, in jeder, mit Verlaub, „Bauernfresse“ steckt nach Morandi auch ein Antlitz, ein Antlitz voller Zeichen ihrer Weisheit, ihres Stolzes, ihrer Würde!

landarbeiter
Foto: Morandi
Sie verziehen die Rüben
1965 in Orgosolo auf Sardinien kam er sich –nachdem er im Bergdorf fotografiert hatte - wie ein Dieb vor. Er warf sich selbst vor, mit seinen Ablichtungen etwas gestohlen zu haben, was eigentlich erst zu ergründen war. Er hatte kein rapporto, kein Verhältnis hergestellt, meinte er. Man kann nur dem wirklich ein Gesicht geben, was man erfahren und erkannt hat, wovon man letztlich auch die sinnliche Gewissheit hat. Erst dann wird aus dem pittoresk-nostalgischen oder voyeuristischen Gegenstand, dem zerfurchten, ledernen, von der Geschichte der mühevollen Arbeit gezeichneten Aussehen der Frauen und Männer ein wirkliches Gesicht. Morandi zeigt Gesichter, keine Fressen und Fratzen. Die Fellinische Pose der Demontage und Re-Komposition, der Welt ihre widerwärtige Fratze vorzuhalten, hat Morandi nicht nötig. Er will seine Protagonisten nicht „entlarven“, auch verhärmt, ausgezehrt oder in ihrer Überfülle, auch kniend behalten sie ihre Würde. Er will seine Protagonisten nicht (noch einmal!?) enteignen, sondern sie bereichern. Arbeit und Würde. Mit Morandi – allen religiösen und sonstigen Würdenträgern sei es geklagt – kann man sich wieder vergewissern, dass die Arbeit der Würde „vorausgeht“, die Würde sich zur hohlen Abstraktion verflüchtigt, wenn sie nicht auf konkrete Arbeit gegründet ist.

Epilog: Die Erde bleibt hart

Morandis vom gängigen Massentourismus ignorierter Geburtsort Piadena liegt unweit von Cremona. Sollten sie eines Tages, vielleicht noch ganz betört von mittelalterlichen Violinenklängen der dortigen Geigenbauer, der Nachfahren der Amati und Co, hoch oben auf Europas höchstem Backsteinturm, dem Torrazzo stehen und bemerken, dass sie eigentlich nichts sehen, dann steigen sie doch herab aus der Hochkultur in die nahe Ebene, die Bassa Padana, nehmen sie sich ein Fahrrad, radeln sie auf den Dämmen am Po und Morandis Oglio entlang … und wenn es März sein sollte, knien sie sich hin und greifen sie in die frisch gepflügte Erde und versuchen sie, mit den Fotos von Morandi im Gedächtnis, sich vielleicht wieder daran zu erinnern, dass alle cultura von agricultura kommt

Landarbeiter
Foto: Morandi "Sie säen"
Wunderschön und vor allem weise in einem alten Lied der paisàn besungen: Die Erde ist hart, welch wunderbare Kultur. „La tèra l’è düra, … che bèla cültüra“!.

Gràsia Muran’, danke Giuseppe Morandi

(Michael Grabek, anlässlich der Fotoausstellungseröffnung auf der Burg Klempenow in Mecklenburg-Vorpommern Ende Juli 2007)

PS: Im Dokumentarfilm „Mi piaceva lavorare.Un bergamino racconta (Ein Landarbeiter erzählt)“ sind historische Fotos und Filmszenen der 50er und 60er Jahre von Morandi integriert. Einen kurzen Überblick in italienischer Sprache erhält man auf der Website der Lega di Cultura di Piadena unter www.legadicultura.it.